Schlaflos in Bethlehem

Glauben Sie, eineR hat geschlafen in Bethlehem – in dieser Nacht?

Maria ganz bestimmt nicht. Vor Erschöpfung nicht, vor Stolz nicht, vor himmelhochjauchzender Aufregung nicht.

Josef? Er wird die Frau und das Kind bemuttert haben. Väter fallen frühestens 24 Stunden nach der Geburt ihres Kindes in eine tiefe Bewusstlosigkeit. Vorher sind sie wach wie nie.

Hat eineR geschlafen in Bethlehem in dieser Nacht? Jedenfalls nicht die Hirten. Hirten schlafen überhaupt nie. Höchstens machen sie manchmal ein Auge zu. Wissenschaftler schlafen schon mal. Aber bestimmt nicht diese drei Weisen auf Nachtfahrt. Sie waren der Erkenntnis ihres Lebens auf der Spur. Hätten sie da schlafen können?

Und die Engel? Schlafen die überhaupt jemals? Fest steht immerhin, dass Gott jeden Engel für mehrere Ewigkeiten degradiert hätte, der sich in dieser extraordinären Nacht dem Schlummer hingegeben hätte.

Hat eineR geschlafen in dieser Nacht in Bethlehem? Nein!

Eher wird die Nacht wie der Tag gewesen sein. So viele Menschen unterwegs und Engel, in den Lüften und auf der Erde, singend und redend und alle durcheinander, beschienen von dem schönsten Anti-Schlaf-Licht des hellsten Sterns aller Zeiten. KeineR hat geschlafen in Bethlehem in dieser Nacht. Und das ist bis heute so geblieben.

Vor allem die Kinder sind so aufgedreht, dass sie nicht ins Bett finden. Recht so. Irgendwann, zu vorgerückter Stunde, wenn sie unterm Weihnachtsbaum eingeschlafen sind, wird sich eine Maria oder ein Josef finden, die sie behutsam ins Bett bringen. Aber des Nachts sehen sie mehrfach nach ihren Geschenken und dem schönsten und hellsten Stern aller Zeiten. Und am Weihnachtsmorgen erheben sie sich in dem sicheren Bewusstsein, die heilige Nacht mit einigen befreundeten Engeln durchgemacht zu haben. KeineR schläft in dieser Nacht. Wie denn auch?!

Michael Ellendorff